Vietnam im Frühjahr 2016. An einem müden Sonntagnachmittag bringt mich mein Taxi vom Flughafen in die Altstadt von Hanoi. Ich öffne die Tür und kassiere vom Straßenlärm der Stadt direkt einen linken Kinnhaken, der mich beinahe wieder zurück ins Auto wirft. Aus jeder nur erdenklichen Himmelsrichtung bohren sich hochfrequente Hupgeräusche der unzähligen Asphaltcowboys in mein Knochenmark. Und dann ist es plötzlich wieder da. Das wohlige Gefühl weit weg von zu Hause zu sein. Weit weg von unseren westlichen Gepflogenheiten, den durchoptimierten Städten und dem unstillbaren Durst nach Organisation und Regulierung. Für die kommenden drei Wochen tausche ich Komfortzone gegen hochkonzentriertes Chaos. Zufrieden lächelnd checke ich ein.
Born to be wild
Meine Reise führte im Februar diesen Jahres quer durch das halbe Land. Vietnam ist wunderbar einfach zu bereisen. Durch seine schlanke geographische Form kommt man, genügend Reisezeit in petto vorausgesetzt, an allen sehenswerten Teilen des Landes vorbei. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind zwar halsbrecherisch und nichts für schwache Nerven, aber sie fahren alle beliebten Destinationen teils mehrmals am Tag an. Unbedingt empfehle ich die Fahrt mit dem eigenen Motorrad über den Himmelspass von Hue nach Hoi An. Dieser Bergpass ist nicht nur landschaftlich wunderschön, er zieht gleichzeitig auch eine klimatische Grenze zwischen Nord- und Südvietnam. Kauert man sich bei der nördlichen Auffahrt noch ein wenig unterkühlt auf dem Moped zusammen, möchte man sich auf der rasanten und kurvenreichen Südabfahrt am liebsten die Kleider vom Leib reissen, so warm wird es einem plötzlich ums Herz. Noch nie auf einem Motorrad gesessen? Kein Problem, interessiert in Vietnam eh niemanden. Führerscheine fallen eher unter die Kategorie „nice to have“. Mit einer entschlossenen Notlüge, man sei natürlich schon mal Motorrad gefahren, erhält man den Schlüssel für die rollende Rakete ohne weitere Rückfragen ausgehändigt. Wertvoller Tipp am Rande: Niemals, aber auch wirklich niemals anhalten, wenn man nicht von den Verkehrslawinen verschluckt werden will! So unkontrolliert und wild der vietnamesische Verkehr auch scheint, die Anderen weichen einem immer aus. Bleibt man jedoch stehen, ist man verloren. Für wahrscheinlich immer.
Vietnam - Bitte lächeln
Was mich nachhaltig beeindruckt hat waren die Menschen in Vietnam. Nirgendwo habe ich bisher so warmherzige und freundliche Menschen kennengelernt wie hier. Und das in einem Land, dessen Geschichte von Unterdrückung, Gewalt und bestialischen Kriegsverbrechen geprägt ist. Setzt man sich mit der Historie des Landes auseinander, möchte man meinen, die Vietnamesen hätten ausreichend Gründe um auf ewig den Rest der Welt zu verachten. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der öffentlich in den Medien gezeigt wurde. Unzensiert, da das Medium Fernsehen neu war, Reporter frei berichten konnten und ihre Bilder noch nicht von Regierungen gefiltert wurden. Rund zehn Jahre lang hat die Welt zugesehen wie die beteiligten Kriegsparteien niederträchtigste Massaker verübten (Massaker von My Lai) und mit chemischen Waffen wie „Napalm“ und „Agent Orange“ Mensch und Natur zerstörten und generationsübergreifend verstümmelten. Wie kommt es also sind die Vietnamesen so offen wie gastfreundschaftlich zugleich? Ein älterer Herr, auf dessen Kakaofarm ich während meiner Reise übernachten durfte und der im Vietnamkrieg für die Amerikaner Hubschrauber geflogen ist, antwortete mir auf diese Frage nur kurz: „Wir Vietnamesen sind gut im Vergeben, aber wir vergessen nicht“. Das hat mich schwer beeindruckt.
Eine Begegnung, die meine Eindrücke besonders bestätigt hat, war die mit einer Dame besten Alters. Gemeinsam mit meinem Tourguide Maruko war ich auf einer Tour durch die unzähligen Labyrinthe des Mekong Deltas unterwegs. Auf dem Rücksitz ihres Mopeds ging es drei Tage lang über Reisfelder zu schwimmenden Märkten (Floating Markets) und diversen anderen lokalen Highlights. Eine grossartige Erfahrung, die ich dringend zur Nachahmung empfehle. Irgendwann stoppte Easyrider Maruko ihre asiatische Harley und spazierte ohne jegliche Ankündigung, Anmeldung und ohne an die Haustür zu klopfen einfach so in ein Privathaus hinein. Sie staunte ungläubig als ich ihr nicht ohne weiteres folgen wollte. „Sowas macht man einfach nicht“, flüsterte ich ihr zu. Das amüsierte sie köstlich und sie erklärte mir, dass die Sache mit der Privatsphäre in Vietnam offenbar etwas anders funktioniert als bei uns in Zentraleuropa. Gerade auf dem Land sei es in Ordnung und gar erwünscht einfach einzutreten und Hallo zu sagen. Man freut sich über Besuch. Verklemmt europäisch trat ich also ein und begrüsste die 93-jährige Dame im grünen Kopftuch mit einem akzentreichen “Xin chào”. Sie staunte mich, offensichtlich überrascht, mit ihren grossen, matten Augen an und begann direkt über das ganze Gesicht zu lächeln. Es stellte sich bald heraus, dass sie noch nie persönlich einem Ausländer begegnet ist. Jetzt war ich der, der ungläubig staunte. Sie war so neugierig, dass sie am Ende unseres Gesprächs wesentlich mehr über mich erfuhr, als ich über sie. Dafür erlaubte sie mir sie zu fotografieren. Als ich ihr dann eines der Fotos (siehe unten) zeigte, kippte sie vor Freude fast aus ihrem Schaukelstuhl. Sie sagte, sie habe noch nie ein Foto von sich gesehen. Nicht in Worte zu fassen wie sehr sie sich darüber freute. Ihr lautstarkes, gebisslos-charmantes Lachen war einmalig ansteckend. Als sie dann noch ihre Tochter und die Nachbarn dazu rief, um gemeinsam das Foto zu bestaunen, war die Party perfekt. Wir kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Ein unvergesslicher Moment, der für immer bleibt.
Comments